(shg) – Der Hipe-Themenkomplex „Everything 4.0“ erreicht mehr und mehr Branchen. Wir haben auf kanzleiLIFE.de schon einige Artikel zu den Themen Digitalisierung und Nutzung von KI in der anwaltlichen Arbeit veröffentlicht. Nun lassen wir Prof. Sabina Jeschke von der RWTH zu Wort kommen. Sie referierte auf dem Anwaltszukunftskongress in Köln im Herbst 2016 zum Thema „Anwälte 4.0 – Der Einfluss der vierten digitalen Revolution auf Justiz und Rechtssysteme“
Interview mit Prof. Dr. Sabina Jeschke
Faculty of Mechanical Engineering, Cybernetics Lab IMA/ZLW & IfU, RWTH Aachen University
- Sehr geehrte Frau Prof. Jeschke, wenn Sie auch beim Anwaltstand von 4.0 reden, würde uns interessieren, wo Sie die Vorstufen 1.0 bis 3.0 sehen.
Der direkte Vergleich ist natürlich etwas eingeschränkt, weil die ersten beiden industriellen Revolutionen technologisch vom Thema Energie (Dampfmaschine, hin zu Energienetzwerken) getrieben war. Damit haben diese Revolutionen zwar Anwälten neue rechtliche Fragestellung beschert, aber deren Arbeitsweise doch eher mittelbar als unmittelbar beeinflusst.
Anders sieht es mit der dritten und schließlich mit der vierten industriellen Revolution aus, die technologisch vom Thema Information/Intelligenz getrieben sind. Hier ist der Einfluss auf das anwaltliche Tun, also deren „daily practise“, offensichtlich. So haben natürlich seit vielen Jahren etwa Informationssysteme wie Datenbanken aber auch das World Wide Web – also eigene wie öffentliche Quellen – die Recherche und das Zusammentragen von Argumenten ganz erheblich verändert. Kommunikation ist digital und „instantan“, was Prozessgeschwindigkeiten verändert. Internetgestützte Rechtsberatungen entstehen, parallel zu Online-Banken und -Versicherungen usw.
Um in dieser Logik zu bleiben: Ab 1970 wurden Justiz und Rechtssysteme in der dritten industriellen Revolution durch zunehmende Digitalisierung drastisch verändert, die Veränderung vollzog sich aber zunächst „lokal“ („meine Daten“, „meine Datenbank“, …). Sie geht in der vierten industriellen Revolution in die des Internet of Things über, wird also von einem wesentlich offeneren Paradigma beschrieben mit stärker globalen Konzepten: clouds, crowds, open data, software as a service, Plattform-Gesellschaft. Und alles wird verstärkt von Algorithmen künstlicher Intelligenz, d.h. wir kommen von einer eher abgeschlossenen und passiven, jedenfalls mehrheitlich „dummen“, Infrastruktur zu einer offenen, aktiven und „schlauen“ Infrastruktur, die sich selber optimiert.
- Wo sehen Sie die Herausforderungen im anwaltlichen Berufsfeld, wenn Sie zehn Jahre in die Zukunft blicken?
Knapp formuliert: Es wird automatisiert, was automatisiert werden kann. Wir sehen das in allen Branchen, zu allen Zeiten. Und es gibt keinen Grund anzunehmen, dass es sich im juristischen Umfeld anders verhalten sollte. Insbesondere auch, weil juristische Dienste ja tatsächlich meist kostenintensive sind – wenn Unternehmen und Privatpersonen gleiche Services durch Automatisierungskomponenten deutlich günstiger erhalten können, werden sie es tun.
Eine besondere Herausforderung liegt also darin, als Anwalt nicht von der Digitalisierung ge- und möglicherweise vertrieben zu werden, sondern sie aktiv zu gestalten – also beispielsweise selber ein Modell für einen online-gestützten Anwaltsservice aufzubauen, anstatt darauf zu warten, dass es Google, Amazon, oder irgendein Marktneuling tut. Das ist vor allem deshalb nicht trivial, weil für einen solchen Ansatz hohe IT-Kompetenzen nötig sind. Das waren sie in der Vergangenheit nicht, und damit auch nicht Bestandteil der – abgesehen davon hochqualitativen – Ausbildung, und damit in der Regel nicht Bestandteil des Kompetenzprofils der Mehrheit der Anwälte und Juristen.
- Und direkt anschließend an die vorige Frage möchten wir gerne erfahren, wo Sie den Anwaltsstand in 20 oder mehr Jahren sehen.
Automatisierung folgt typischerweise folgendem Schema: Es werden zunächst „einfach automatisierbare“ Teilkomponenten automatisiert. Um in der Parallele der industriellen Revolutionen zu bleiben, das waren in der zweiten industriellen Revolution die besonders einfachen, aber oft mit hohem körperlichen Einsatz verbundenen „blue collar – low qualified“ Jobs in der Produktion. Im späteren Verlauf wurden – und zwar durch den Einsatz von immer mehr künstlicher Intelligenz, die also auch in der Lage ist, mit den schwierigen Prozessen umzugehen – auch komplexere Bereiche automatisiert.
Für die Rechtssysteme ist meine Einschätzung, dass viele stark formalisierte Prozesse, die ein Notar heute durchführt, in wenigen Jahren mithilfe von Blockchain oder vergleichbaren Technologien weitgehend automatisiert werden, jedenfalls für die Standardfälle. Bis komplexe Abwägungsprozesse etwa bei Ehescheidungen mit Sorgerechtsfragen oder die Verteidigung eines Mandanten bei einem Kapitalverbrechen durch einen „Anwaltsrobot“ übernommen werden, dürfte es hingegen noch einige Zeit brauchen… 🙂 Das liegt vor allem daran, dass wir bei diesen Fällen komplexe Bewertungsmodelle haben, die Ethik und Moral umfassen, die ihrerseits wieder zeit- und kulturabhängig sind. Hier gibt es in der Regel auch keine „einfache“ Antwort, sondern Abwägungsfragen und Verhältnismäßigkeiten, die jeweils individuell zu bewerten sind.
- Wo bleibt der klassische Anwalt im Spannungsfeld zwischen Berufsethos mit persönlicher Beratung und automatisierten Lösungen auf Basis von KI-Anwendungen?
Meine Vermutung ist, dass es „den klassischen Anwalt“ nicht mehr geben wird, insofern als sich sein oder ihr Berufsbild sehr stark verändern wird. Er wird eine zentrale Rolle spielen in allen Bereichen, bei denen das Abwägen komplexer, schwer quantifizierbarer Sachverhalte im Vordergrund steht, und wo ein Mensch schlicht deshalb einem Computer überlegen ist, genau weil er Mensch ist, also Humanität (im Wortsinn!, also, „was Menschen zugehörig oder eigen ist“) zentral ist für die Aufgabe. Er wird in Zukunft umfassend von „Kollegen künstlicher Intelligenz“ unterstützt, solchen mit und ohne Körper, Roboter und Web-Agenten etwa. Die Standardaufgaben reduzieren sich schnell und umfassend. Die IT-Skills eines Anwalts spielen eine immer wichtigere Rolle. Das Thema der Gestaltung rechtlicher Grundsätze bis hin zur Politikberatung wird wieder eine zentralere Rolle spielen, weil die extrem schnell verlaufende vierte industrielle Revolution völlig neue Rechtsfragen aufwirft, etwa zur Frage, was technische Systeme dürfen und was nicht. Wir sehen die Debatten bereits ansatzweise im Bereich des autonomen Fahrens, und das ist lediglich die Spitze des Eisberges.
- Ist unsere Welt mit gesetzlichen Regelungen auf die Veränderungen durch weitgehende Automatisierung vorbereitet? Und wenn nein: Was müsste getan werden?
Das ist sie keineswegs, und das kann sie logischerweise auch gar nicht sein: Gesetzgebung folgt ja Regulierungsbedarf. Der wiederum wird durch neue Technologien, neue gesellschaftliche Realitäten usw., also immer durch „neues“, generiert. In Phasen großer gesellschaftlicher Stabilität, evolutionärer kontinuierlicher Weiterentwicklung also, ist es meist ausreichend, bestehende Regularien anzuwenden bzw. in gewissem, aber eher kleinem Umfang zu modifizieren. In Phasen disruptiver, also eher revolutionärer Entwicklungen, ist das nicht möglich, weil die Disruptionen nicht vorhersehbar sind. Und ihre Konsequenzen noch weniger: Denn erst die Verfügbarmachung einer Neuerung zeigt, ob und wie diese genutzt wird. So sind mobile phones heute alles Mögliche, telefoniert wird mit ihnen ab und zu auch – aber das ist fast nur noch ein Nebennutzungseffekt. Um das allerdings herauszufinden, mussten sie zunächst jahrelang und scharenweise die Gesellschaft durchdringen.
In komplexen Szenarien ist es ausgesprochen schwierig, ohne das „Ausprobieren“, also ohne ein laufendes Experiment, zu validen Aussagen zu kommen. Man kann nicht alles vorhersehen, durchplanen und lückenlose Be- und Entschlüsse fassen. Das heißt natürlich auch, in einer Durchführungsphase Nebeneffekte zu haben, die in dem Moment nicht angenehm sind.
Um es plakativ am Beispiel zu beschreiben: Man kann, wird und muss autonome Autos zulassen. Und natürlich werden auch diese nicht unfallfrei bleiben, jedoch in sehr kurzer Zeit deutlich sicherer agieren als menschliche Autofahrer. Es werden jedoch andere Unfälle sein, denn die Reaktionsgeschwindigkeiten solcher Systeme liegen weit oberhalb der des Menschen, Auffahrunfälle z.B. sollten also seltener werden. Gleichzeitig fehlt ihnen zunächst aber so etwas wie „Bewertungskompetenz“, bis hin zu „allgemeinem gesunden Menschenverstand“. Entlang der Einführung werden wir erst erfassen, welche Unfälle tatsächlich auftreten, wie eine solche Bewertungskompetenz vielleicht doch erreicht werden kann und wie grundsätzlich schadensrechtlich und ethisch reagiert werden muss.
Es ist unmöglich, ohne das Experiment zu einem aussagekräftigen vollständigen Ergebnis zu kommen. Die Schläfrigkeit, die man da manchmal zu beobachten meint, ist zwar faktisch auch da, jedoch ist gleichzeitig der Angriff der Kritiker leicht unberechtigt, da man ohne das Experiment nun mal das Ergebnis nicht kennt.
- Wie sieht eine Anwalt-Mandanten-Beziehung 4.0 aus? Alles nur noch virtuell?
Das dürfte – wie jetzt auch – eher situativ zu entscheiden sein. Auch jetzt kommunizieren wir ja „abhängig von den Möglichkeiten“: Bei einer zu leistenden Unterschrift besuche ich den Notar, einen Spezialanwalt für den Kauf eines Grundstücks in einem ganz bestimmten Ausland konsultiere ich eher per Mail oder Telefon, weil er oder sie sich nicht in meiner Stadt befindet…
Eine Entwicklung allerdings wird hinzukommen: Die virtuellen Realitäten zeigen heute schon in Form von 3D-Brillen, welches Potential sie haben. Es ist zu erwarten, dass man zukünftig bei Nutzung solcher Geräte, die sich noch weiter entwickeln werden, kaum noch zwischen Realität und Virtualität unterscheiden kann – die sogenannte „Immersion“, das Eintauchen in die virtuelle Welt, wird immer perfekter. Damit aber öffnet sich das Feld natürlich für – durchaus persönliche – Anwalt-Mandaten-Beziehungen in einem virtuellen Raum, der nicht mehr räumlich beschränkt ist, sondern im Grundsatz die ganze Welt umspannt. Das führt zu neue Chancen, aber auch zu neuer Konkurrenz.
- Wie nehmen Sie den zum Teil eher wenig technikaffinen Anwälten die Angst vor der beruflichen Zukunft?
Das ist ein sehr heikles Thema. Ich erlebe jede Woche, dass sich hinter einer solchen Formulierung im Grunde eine Erwartungshaltung verbirgt, vom Typ „Sagen Sie mir/meinem Leser/meinen Mitarbeitern bitte, dass alles gar nicht so dramatisch ist“. Das Verteilen von Placebos – oder schlimmer noch von Lügen – darf ja nun niemandes Intention sein, ganz bestimmt aber ist sie in der Wissenschaft völlig fehl am Platze.
Die vierte industrielle Revolution ist eine Realität, sie verläuft äußerst schnell und ist alleine deshalb radikal, und sie wird unsere Gesellschaft umfassend verändern, weitgehend ohne Ausnahmen. Auf die Frage, ob nun jeder ein IT-Spezialist werden müsse, ist zu antworten, dass mit der „Revolution des Buchdrucks“ auch jeder lesen lernen musste. IT-Kompetenz wird also in Zukunft auch für jeden wesentlich – und das weit hinaus über das reine Bedienen eines Computers!
Allerdings, und das ist der positive Teil der Antwort: Es musste zwar jeder lesen lernen, gleichzeitig allerdings wurden die bis dato nur auf Latein verfügbaren Bücher übersetzt in die gesprochenen Alltagssprachen. D.h., die Fähigkeit der Informationserschließung aus Text wurde zur Notwendigkeit gesellschaftlicher Teilhabe, gleichzeitig vereinfachte sich aber auch die „Schnittstelle zum Menschen“.
Eine vergleichbare Tendenz sehen wir heute, wenn wir uns die Computerentwicklung von Maschinencodesprachen über Kommandozeilenprogrammierung hin zu Desktopmethapern, visuellen Programmiersprachen und der „App-isierung“ auf mobilen Geräten anschauen: Auch hier reduzieren sich die Benutzungsbarrieren gerade in erstaunlicher Geschwindigkeit.
- Wie werden junge Menschen an den Hochschulen auf den Wandel vorbereitet?
Eine zweiteilige Antwort ist hier notwendig:
Vordergründig haben wir hier zunächst gar kein Problem, wenn wir auf das Profil der Digital Natives schauen, die aktuell unsere Hochschulen bevölkern und in den kommenden Jahren scharenweise in die Unternehmen wechseln. „Die Revolution entlässt ihre Kinder“ – und zwar insofern als diese Generation mit den neuen Technologien völlig selbstverständlich aufgewachsen ist und hier viel geringere Berührungsängste hat.
Hinter den Kulissen allerdings steht Arbeit an: Zum einen reicht die Anzahl der MINT-Anfänger nicht aus, diese werden aber in allen Bereichen gebraucht. Zum zweiten ist die Ausbildung zu wenig interdisziplinär, um die komplexen Herausforderungen einer vernetzten, hochgradig globalisierten 4.0-Gesellschaft zu adressieren. Zum dritten müssen vor allem die nicht-technischen Studiengänge – wie etwa Jura – das Thema der Digitalisierung umfassend und neuartig in ihre Curricula integrieren.
Jedoch, um hier versöhnlich zu enden: Deutschland hat eine hervorragende Ausgangssituation: Die Ressourcen, auch die finanziellen, sind vorhanden, das Bildungssystem ist sehr gut. Zudem wächst inzwischen der Mut zur Veränderung. Wenn wir uns endlich dazu entscheiden, im digitalen Strukturwandel nicht nur „irgendwie mitzuschwimmen“, sondern ihn aktiv, radikal und tabufrei voranzutreiben, haben wir exzellente Voraussetzungen, ihn zu gestalten. Und dabei UNSERE ethischen, moralischen und kulturellen Vorstellungen abzubilden.
Sehr geehrte Frau Prof Jeschke, wir danken Ihnen für diesen fokussierten Einblick.
Einen weiteren Artikel zum Thema Kanzlei 4.0 finden Sie hier: https://kanzleilife.de/kanzlei-4-0-was-soll-das-sein/
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