Interview mit Prof. Dr. Stephan Ory
Der EDV-Gerichtstag, gegründet bereits 1992, „will dazu beitragen, die EDV-Instrumente für die juristische Arbeit auf das jeweils beste Niveau zu bringen.“ Damit ist der engagierte Verein nach wie vor eine Keimzelle für die sinnvolle IT-Nutzung im juristischen Umfeld.
Vor dem 27. Deutschen EDV-Gerichtstag im September sprach kanzleiLIFE mit Prof. Stephan Ory, selbst Rechtsanwalt und seit 2014 Vorsitzender des EDV-Gerichtstages, über das Thema Legaltech.
- Was ist eigentlich Legaltech?
Prof. Dr. Stephan Ory: Gute Frage. Sie signalisiert, dass es keine Definition gibt, die wir als Juristen immer suchen. Der eine meint beim Diktat am Computer, das sei Legaltech. Der nächste denkt an künstliche Intelligenz. Die Digitalisierung verändert die anwaltliche Dienstleistung und zwar sich beschleunigend. Die Rechtsberater stehen vor Umbrüchen, bei denen andere Berufe schon viel weiter sind. Der Begriff Legaltech beschreibt am ehesten diesen Wandel.
- Haben wir schon Legaltech oder gilt es, das noch herauszufinden?
Die Digitalisierung im Anwaltsberuf ist spürbar, das meint nicht den Einsatz eines PC als Schreibmaschine. Ich meine damit auch nicht in erster Linie das beA. Schrittweise haben wir uns an E-Mail, an Schriftsätze im Änderungsmodus und Kanzleisoftware mit Standardbriefen aus der Datenbank gewöhnt. Es wird auch nicht morgen jemand mit der großen „Legaltech-Maschine“ vorfahren, um sie in der Kanzlei zu montieren. Jede Kanzlei wird die für ihre Klientel und die eigene Arbeitsorganisation richtigen großen und kleinen Helferlein entdecken und einsetzen.
- Ist Legaltech begrenzt auf einige Firmen, die sich an Verbraucher wenden und ihnen schnell zu ihrem Geld verhelfen, zum Beispiel bei Flugverspätungen oder Ordnungswidrigkeiten?
Nein, im Gegenteil. Wir erleben ja gerade die Übernahme anwaltlicher Dienstleistungen durch Dritte und das im Preiswettbewerb – der Rechtssuchenden zahlt im Erfolgsfall durch eine Beteiligung an der Erstattung durch die Airline und ist froh, den Ärger vom Hals zu haben. Der allgemein tätige Anwalt kann ein solches Mandat, für das er zur Sicherheit noch im Kommentar nachlesen müsste, gar nicht wirtschaftlich betreiben. Dann gibt es Webseiten mit anwaltlicher Dienstleistung wie Vertragsgeneratoren. Und dazwischen gibt es Angebote, die man als Akquisitionsmittel für Kanzleien beschreiben kann wie etwa bei all dem, was man unter dem Begriff „Online-Scheidung“ googeln kann.
- Sind die Kunden solcher Webseiten für die klassisch tätigen Anwälte verloren?
Ein Stück weit ja. Die Digital Natives sind gewohnt, sich online zu amüsieren, im Netz einzukaufen oder in elf Minuten die Liebe des Lebens zu suchen. Warum sollen die ausgerechnet bei der Anwaltssuche vor Ort bleiben? Das gilt jedenfalls für all diejenigen Angelegenheiten, bei denen es nicht auf ein besonderes persönliches Vertrauensverhältnis ankommt.
- Wo nützt Software dem Anwalt? Legaltech könnte ja auch dem Anwalt das Leben erleichtern?
Das hat zwei Seiten. Nach außen werden Anwälte auch danach beurteilt, wie ihre Website aussieht, ob man Dokumente vertraulich hochladen kann und Zugang auf sichere Weise zur eigenen Akte in der Cloud hat. Kanzleiintern müssen die Schnittstellen zur Software samt der darauf bezogenen Arbeitsorganisation stimmen. Es nutzt nichts, Angaben von Mandanten strukturiert auf der Website einzusammeln, wenn das hinterher jemand von Hand erfassen und in jedes Schreiben nach außen von Hand übertragen muss. Das sieht im Detail je nach Schwerpunkt der Kanzlei ganz unterschiedlich aus.
- Woran kann ein Anwalt heute erkennen, dass sein Geschäft in zehn Jahren von Algorithmen erledigt werden könnte?
Wer viele gleichförmige Mandate hat und die immer noch individuell von Hand erledigt, wird gegenüber spezialisierten Kanzleien mit großer IT-Unterstützung unterlegen sein. Aber auch die Empfänger anwaltlicher Schreiben ändern ja ihre Arbeitsweise – warum muss man der Schadensabteilung einer Versicherung langatmig und mit Sätzen, die vielleicht nur den eigenen Mandanten freuen, schreiben, wenn das dort eingescannt und die notwendigen Daten durch Algorithmen herausgefiltert werden? Der Anwalt könnte sich darauf beschränken, die notwendigen Daten über eine Schnittstelle mit wenig Aufwand zu übertragen. Die komplizierten Fälle, die auch auf der Gegenseite nicht mehr mit Algorithmen bearbeitet werden, sind dann die Herausforderung. Die Darstellung eines Falls für den Algorithmus statt für den Sachbearbeiter wird eine Herausforderung sein und die Tätigkeit ändern.
- Gibt der EDV-Gerichtstag dazu Informationen?
Der EDV-Gerichtstag befasst sich in diesem Jahr schwerpunktmäßig mit Legaltech und künstlicher Intelligenz. Wir wissen, dass wir den Anwälten, sonstigen Rechtsdienstleistern und Gerichten keine fertigen Konzepte bieten können. Wir verstehen uns als Plattform, um gemeinsam Ideen zu entwickeln, was auch bedeutet, dass es unterschiedliche, konkurrierende Ideen gibt, vielleicht sogar Streit um den richtigen Weg. Eines wissen wir klar: Die Annahme, dass das Internet wieder weg geht, ist auch für die Juristen falsch.
- Was haben Besucher in diesem Jahr an Besonderheiten zu erwarten?
Das Motto des diesjährigen EDV-Gerichtstages lautet „Rechtspraxis digital: Probleme bewältigen – Zukunft gestalten“ ganz besonders freuen wir uns, dass wir Herrn Prof. Prof. Dr. rer. nat. Dr. h.c. mult. Wolfgang Wahlster, Vorsitzender der Geschäftsführung und technisch-wissenschaftlicher Leiter Deutsches Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI) GmbH, für die Eröffnungsrede gewinnen konnten und Patric Fedlmaier, Vorstandsvorsitzender der Provinzial Rheinland Versicherung, Leiter der Fachgruppe IT im Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (gdv) zum Thema „Künstliche Intelligenz in Betrieb und Schaden eines Versicherungsunternehmens“ vortragen wird.
Weitere Themen auf dem EDV-Gerichtstag werden der strukturierte Parteivortrag, Bekämpfung von Hasskriminalität im Netz, Überblick über aktuelle Rechtsprechung zu eGovenment und eJustice sein. Ein eigener Arbeitskreis wird sich mit dem Neustart des besonderen elektronischen Anwaltspostfachs (beA) befassen. Aber auch Themen über nationale Grenzen hinaus stehen auf der Agenda, wie beispielsweise der elektronische Rechtsverkehr in Österreich und Zukunftskonzepte für eJustice auf europäischer Ebene.
Wie in jedem Jahr können sich Teilnehmer auf der Firmenbegleitausstellung über aktuelle IT-Lösungen, spezielle Software für Anwälte und juristische Fachprogramme im direkten Kontakt mit den Herstellern informieren.
- Wie sah eigentlich die Prognose für den Einsatz von Software vor etwa 15 Jahren aus und was ist bisher daraus geworden?
Ich habe in meinem Berufsleben viel Erfahrung mit der Digitalisierung elektronischer Medien gesammelt. Lesen Sie den Bericht zur Entwicklung der Telekommunikation, der 1975 für den damaligen Bundespostminister geschrieben wurde. Dort findet sich eine grandiose Unterschätzung des Telefax, das ja seine Blütezeit inzwischen längst hinter sich hat und nur noch bei den Juristen intensiv genutzt wird. Oder nehmen Sie den Enthusiasmus der Verlagsbranche bei BTX – gefolgt von bitterer Enttäuschung über das langsame Wachstum – mit der Folge, dass man das Internet in der Anfangszeit fatal unterschätzt hat. Bei aller Ungewissheit hat sich gezeigt, dass diejenigen, die frühzeitig experimentiert hatten, erfolgreicher waren.
- Wo sehen Sie den Rechtsmarkt in 10 Jahren?
Persönlich glaube ich, dass die Abschottung des Markts für Rechtsdienstleistungen, um ihn Anwälten vorzubehalten, nur in einem engen Kernbereich funktioniert. Die Digitalisierung bringt neue Chancen auch für Anwälte. Denken Sie nur an den Bereich des Datenschutzes. Dazu müssen Anwälte im klassischen Sinn der Rechtsinformatik digitale Sachverhalte beherrschen. Sie sind dann nicht als juristische Bedenkenträger unterwegs, sondern gestalten bei der Ausarbeitung von Sachverhalten für Privat- und Geschäftskunden. Dort sehe ich ein Wachstum über das klassische Betätigungsfeld auch für lokale und regionale Kanzleien hinaus.
Bildnachweis die Fotografin Frau Jennifer Weyland
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