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68. Deutscher Anwaltstag 2017 in Essen

68. Deutscher Anwaltstag 2017 in Essen

LegalTech als Chance begreifen

Die Teilnehmerzahlen des Deutschen Anwaltstag 2017 waren mit über 1.700 Besuchern weitgehend stabil, wenn man bedenkt, dass man dafür den Vatertag opfern musste. Mehr noch als im vergangenen Jahr ging es um „Innovationen und LegalTech“. Von LegalTech können sogar kleinere Kanzleien profitieren, weil sie in die Lage versetzt werden, Ihre Dienstleistungen überregional bereitzustellen und mit den Möglichkeiten der Technik eine noch bessere Beratung ihrer Mandanten zu bieten.

Im Vergleich zu anderen Branchen sei die Anwaltschaft spät dran, so eine der Thesen von DAV-Präsident, Rechtsanwalt und Notar Ulrich Schellenberg. Trotz steigender Geschwindigkeit des damit einhergehenden Wandels sieht er jedoch keineswegs nur Risiken für die Anwaltschaft. Vielmehr „erleichtert der digitale Fortschritt dem Verbraucher einerseits den Zugang zum Recht und bietet Anwälten andererseits neue unternehmerische Chancen“, so Schellenberger in der Eröffnungspressekonferenz. „Legal Tech scheint mit einem Mythos des Anwaltsberufs zu brechen; die Technik stellt unser Wissensmonopol in Frage“. Schon heute erhalten Verbraucher mit Hilfe von Rechtsgeneratoren online Rechtsrat. Aber auch „Anwälte kommen über das Internet praktisch ins Wohnzimmer der Mandanten“, fährt er fort. Diese Entwicklung wird nach Einschätzung des DAV-Präsidenten an Fahrt gewinnen. „Die Anwaltschaft steht vor der Herausforderung, die Möglichkeiten der Technik für eine noch bessere Beratung ihrer Mandanten zu nutzen.“

Ulrich Schellenberg, Rechtsanwalt und Notar, Präsident des Deutschen Anwaltvereins
Foto: © Sven Serkis, Berlin

Anders gesagt: Den Wandel antizipieren heißt auch, wiederkehrende, einfache Tätigkeiten zu standardisieren und zu automatisieren, um mehr Zeit für die wirklich herausfordernden juristischen Themen zu haben – oder auch, um mehr Mandate in der gleichen Zeit bedienen zu können.
Was die exponentiell zunehmende Geschwindigkeit bei der Digitalisierung angeht, hat der Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI), Dieter Kempf, ein plastisches Bild verwendet: Die Weizenkornparabel, bei der ein Höfling als Lohn für eine Tätigkeit nur Weizenkörner auf einem Schachfeld haben wollte – auf dem ersten Feld ein Korn, auf dem nächsten zwei, und so weiter mit ständiger Verdopplung. Nach der Auffassung von Kempf befinden wir uns, was die Digitalisierung angeht sicher erst in der zweiten Reihe des Schachbretts. Aber die Geschwindigkeit legt rasant zu.

 

 

 

Dieter Kempf, Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI)
Foto: © Stephan H. Gursky

 

Kempf hält die digitale Transformation, oder besser Disruption, für eine große Chance, denn am Markt gewinne erfahrungsgemäß nicht immer das beste Produkt (Beispiel: Nokia Handys), sondern das benutzerfreundlichste (Beispiel: Apple iPhone). Es gehe beim Kunden um Convenience!

Society 5.0 vs. Industrie 4.0

Die Digitalisierung sei verbunden mit einer durchgreifenden Veränderung der Gesellschaft. Daher findet Kempf den in Japan geprägten Ausdruck Society 5.0 aussagestärker als Industrie 4.0, denn damit könnten sich insbesondere Dienstleister und Bürger kaum identifizieren. Society 5.0 stehe für die fünfte Entwicklungsstufe der Menschheitsgeschichte, nach dem Jäger und Sammler, Agrar-, Industrie- und Informationszeitalter komme nun das Zeitalter der Vernetzung.

Und aus diesem Grund müsse auch die Regulierung des Datenschutzes angepasst werden: Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung mit dem Grundsatz der Datensparsamkeit passe nicht mehr in unser Zeitalter des Datenreichtums. „Der Gedanke der Datensparsamkeit muss von einem Grundsatz der Datensouveränität abgelöst werden“, sagte Kempf.

Dies schließt jedoch keineswegs die Regulierung aus. Nur solle die Regulierung zur Nutzung passen. Prof. Dr. Horst Eidenmüller warf daher in seinem Vortrag das Beispiel autonom fahrender Autos auf. Während BMW beispielsweise nach wie vor von einer Haftung des „Fahrers“ ausgehe, sei Volvo bereits einen Schritt weiter. Der Hersteller zielt darauf ab, einem selbst fahrenden Auto auch die Haftung zu übergeben. Oder anders gesagt: Die Haftung auf den Hersteller zu verlagern, denn von einem zeitunglesenden „Fahrer“ könne man ja kaum die passende Reaktion bei einem drohenden Unfall erwarten. Er geht noch weiter, denn man müsse im Rahmen einer sich verändernden Gesellschaft darüber nachdenken, inwieweit sogar jedem Bürger ein Recht auf Teilhabe an künstlicher Intelligenz zustünde.

Sascha Lobo, bekannter Journalist und Blogger
Foto: © Stephan H. Gursky

Regulierung der Digitalisierung – Juristen sind gefordert

Knapp zusammengefasst gipfelt auch der mit großem Applaus versehene Vortrag des mit seinem roten Irokesenkamm unübersehbaren Journalisten und Bloggers Sascha Lobo in einem Fazit: Die Technik ist da, wird nicht mehr verschwinden, muss sich aber auch an Grenzen halten und die fehlten noch.

Daher forderte er die Anwaltschaft auf, den Wildwuchs in der Internet-Welt durch Vorschläge für eine gute Regulierung zu bekämpfen. Letztlich sei ein Diskurs darüber anzustoßen, was gesellschaftlich gewollt oder wünschenswert ist und was nicht. Dies ist in einer demokratischen Gesellschaft unabdingbar.

Anwälte haben dann die Chance, sich mit tatkräftiger Unterstützung durch Legal-Tech-Lösungen auf die wahren Inhalte Ihrer Tätigkeit zu fokussieren und damit die Routinetätigkeiten an technische Systeme zu delegieren.

Dazu ist es jedoch unter anderem nötig, in der Anwaltschaft ein Bewusstsein für Serviceorientierung und kaufmännisches Agieren aufzubauen, wie Michael Friedmann, Gründer von 123recht und Frag-einen-Anwalt, betont. Nach seiner Erfahrung aus der Zusammenarbeit mit Anwälten, denen die Portale Mandate vermitteln, hapere es hier nicht selten.

Fazit

Es bestehen vielfältige Möglichkeiten, jetzt neue Geschäftsmodelle zu schaffen, die zum Teil auf künstlicher Intelligenz (KI) basieren. Dabei werden Grenzen der KI dort gesehen, wo es darum geht, vernünftige Entscheidungen zu fällen. KI solle dazu dienen – wie beim selbst fahrenden Auto – Fehler zu vermeiden. Aber die Entscheidungen sollte nach wie vor ein Anwalt fällen. Daher bleibt eine der unerlässlichen und wünschenswerten Fähigkeiten eines guten Juristen die Abstraktion. Schließlich geht es nicht darum, Paragraphen oder Entscheidungen auswendig zu lernen. Ohne Reflektion besteht das latente Risiko, durch copy & paste auch Fehler zu kopieren und damit zu perpetuieren.

Zum Schluss die gute Nachricht: Legal Tech hat auch Grenzen. Nach Ansicht von Schellenberg wird selbst das beste Computerprogramm eine individuelle und persönliche Rechtsberatung mit rechtlichen Detailfragen und taktischen Erwägungen nicht ersetzen können. Dennoch muss die Anwaltschaft gemeinsam den Wandel gestalten. Dies sichere dem Berufsstand „die Deutungshoheit“ und die Möglichkeit, den Prozess selbst mit zu gestalten.

(shg)

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