Die Digitalisierung wird immer bedeutender
Die Resonanz auf den Deutschen Anwaltstag 2016 war hoch. Man spricht über rund 2.000 Teilnehmer. Neben dem Oberthema der Veranstaltung „Wenn das Strafrecht alles richten soll – Ultima Ratio oder Aktionismus?“ konnte man feststellen, dass die Digitalisierung an Bedeutung gewinnt und dass Kanzleimanagement sowie Kanzleimarketing beileibe nicht mehr als exotische Randthemen verstanden werden.
Das Strafrecht muss die Ultima Ratio sein, so die Meinung des DAV. Der Gesetzgeber sollte sich bei der Verschärfung des Strafrechts und der Schaffung neuer Tatbestände zurückhalten, denn das Strafrecht darf nicht als gesellschaftliches Allheilmittel verstanden werden. Dieses knappe Fazit beschreibt den Standpunkt des DAV, vorgetragen von seinem Präsidenten RA Ulrich Schellenberg. Neben der Vielzahl juristischer Vorträge, die naturgemäß den Hauptteil der Veranstaltung bilden, haben uns die Bereiche Kanzleimanagement und Digitalisierung besonders interessiert.
Die Digitalsierung wird definitiv weiter fortschreiten und neue Lösungen im Rechtsdienstleistungsmarkt hervorbringen. In den Sitzungen der Arbeitsgemeinschaft Kanzleimanagement innerhalb des DAV wurden einige Fakten und Visionen fixiert, denen man kaum ausweichen kann.
Automatisierung und Legaltechs werden den Markt verändern
Prof. Dr. Leo Staub von der Universität St. Gallen hat denn auch die Chance genutzt, aufzurütteln und ein wenig zu provozieren. „Wir werden sicherlich keine anwaltlichen Dienstleistungen im Supermarkt kaufen. …oder doch?“ In anglikanischen Ländern ist man da etwas offener. So suchte die britische co-op – vergleichbar mit Edeka bei uns – bereits vor einer Weile 3.000 Juristen, um juristische Dienstleistungen an Endverbraucher anzubieten, einfach verständlich und zu Festpreisen. So kostet in dem bereits eingeführten Service die Erstellung eines Testaments zwischen £ 90,- und £ 180,-. Auch Trennungsvereinbarungen von Ehepartnern werden zum Fixpreis erstellt und abgewickelt. Das sind Herausforderungen!
Um sich im steigenden Wettbewerb zu differenzieren, sind also kreative Ideen und eine echte Geschäftsstrategie gefragt. Zu deren Beurteilung sollte sich eine Kanzlei nach Meinung von Prof. Straub mindestens die folgenden Fragen stellen und beantworten:
- Steigert die Strategie den Wert der Kanzlei?
- Lässt sich für die konkrete Kanzlei eine Strategie verfassen, mit der es gelingt, den Markt qualitativ oder quantitativ zu schlagen?
- Welche echten Vorteile differenzieren die Kanzlei von ihren Wettbewerbern (UPSs)?
- Ist der Markt der Kanzlei (Dienstleistung, Mandantengruppe, Marktgebiet, Vertriebskanäle) so eingegrenzt, dass klar wird, wo Wettbewerbsvorteile entwickelt werden müssen („Tun, was man gut kann!“)?
- Welche Trends muss die Kanzlei beantworten können, um ihre Zukunft nachhaltig zu sichern?
Und nicht zuletzt:
- Können alle Partner der Kanzlei die entwickelte Strategie mit ihrem persönlichen und beruflichen „Lebensentwurf“ in Einklang bringen?
Sind diese Fragen beantwortet, geht es darum, die Kanzlei auszurichten. Dazu gehören eine Vision und ein sog. Mission Statement. Die Vision ist quasi der Leitstern, der etwa beinhaltet, wo – in welcher Marktposition – die Kanzlei in fünf bis zehn Jahren stehen soll. Die Mission formuliert dann die konkreten Aufgaben. Prof. Straub formuliert dies in zwei Fragen: „Warum braucht es uns? Was würde unseren Kunden fehlen, wenn es uns nicht gäbe?“
Er sieht es als bedeutsam an, solche Ziele zu formulieren und diese auch entsprechend zu betonen, um sie nicht aus dem Blick zu verlieren.
Danach folgt der Maßnahmenplan, der die Maßnahmen selbst, deren Ziel, die Verantwortlichen sowie einen Zeitrahmen enthält.
In der Folge werden Meilensteine auf dem Wer definiert und regelmäßig durch die Geschäftsleitung kontrolliert. In diesem Rahmen gehören auch die Strategieziele immer wieder einmal auf den Prüfstand, um zu sehen, ob sie noch passen. Die Ergebnisse dieser Prüfung bilden die Basis für den nächsten Strategie-Workshop des Managements.
Das klingt sehr nach Wirtschaftsunternehmen. Aber letztlich sind Kanzleien, die sich zu modernen und nachhaltigen Rechtsdienstleistern entwickeln möchten, eben auch wirtschaftlich agierende Unternehmen.
Ein lukratives Marktsegment finden – Legaltechs zeigen, wie es geht
Rechtsdienstleistungen mal ganz anders präsentierten Legaltech-Unternehmen in einer anderen Session. Vermutlich hat jeder Autofahrer schon einmal einen Bußgeldbescheid wegen überhöhter Geschwindigkeit, zu dichtem Auffahren, vermeintlichem Rotlichtverstoß oder Nutzung des Handys am Steuer erhalten. Die Erkenntnis lehrt, dass viele Bußgeldbescheide fehlerhaft sind. Die Gründer des Portals www.geblitzt.de helfen Betroffenen und haben gleichzeitig ein Geschäftsmodell entwickelt, das ein sehr spezifisches Marktsegment mit hoch automatisierten Rechtsdienstleistungen bedient – und für den Nutzer kostenlos ist. Dennoch ist es profitabel…
Gründer und Geschäftsführer Jan Ginhold, der selbst kein Rechtsanwalt ist, hat seine Geschäftsidee im Laufe weniger Jahre zu einer erfolgreichen Dienstleistung ausgebaut, die am Ende den verbundenen Vertragsanwälten quasi automatisch Mandate beschafft, die mit einer hohen Wahrscheinlichkeit zum Erfolg für den Kunden und den Anwalt führen. Selbst dann bleibt das Angebot für den Kunden kostenlos, denn der Rechtsanwalt wird von der Bußgeldstelle bezahlt, sofern sich herausstellt, dass der Bußgeldbescheid fehlerhaft war.
Wie geht das? Nach Aussage von Jan Ginhold galt es zunächst, Gemeinsamkeiten bei der Mehrzahl der Fälle herauszufinden und in Softwarelösungen soweit abzubilden, dass sie bis zu einem bestimmten Punkt weitestgehend automatisiert ablaufen können. So gibt es eine endliche Zahl von Bußgeldern, die bearbeitet werden. Daneben ist auch die Anzahl der Bußgeldstellen bekannt. Damit lassen sich die notwendigen Aktionen durchgängig automatisieren und die zugehörigen Dokumente auf Knopfdruck auslösen: Kundendaten einholen, Vollmacht erteilen, Anforderung der Akte bei der Bußgeldstelle, Reaktion auf den Vorwurf sowie Wiedervorlagen werden im System abgebildet. Nach Erfahrung von Jan Ginhold braucht man dazu noch keinen erfahrenen Rechtsanwalt. Im nächsten Schritt unterstützt das selbst entwickelte System dabei, für den konkreten Fall ein Scoring zu erstellen – lässt sich der Fall gewinnen? Ergibt die Bewertung, dass keine Chance auf einen Prozessgewinn besteht, erhält der Kunde eine entsprechende Information und der Fall ist beendet. Ansonsten geht es weiter über einen spezialisierten Vertragsanwalt, der von geblitzt.de eine Pauschale erhält, weil Anwälte nicht kostenlos arbeiten dürfen.
Für die weitere Bearbeitung werten die Systeme auch vorhandenes Wissen aus. Durch die Vielzahl der abgewickelten Fälle lassen sich automatisiert Rückschlüsse ziehen: Welches Gerät wurde genutzt? Ist es noch aktuell? Ist es noch geeicht? Gibt es bekannte Fehlmessungen? War der Messbeamte auf das Gerät geschult? Aus der Erfahrung lässt sich z. B. auch schließen, dass wiederkehrend eine von 30 Messungen falsch ist. Auch diese „merkt“ sich das System. Kommen weitere Fälle der gleichen Messung herein, können auch die Fälle in derselben Weise bearbeitet werden. Ist auch nur eine Messung fehlerhaft, so wird automatisch die gesamte Messreihe unbrauchbar. Solche Erkenntnisse lassen manuell nie gewinnen.
Die Vertragsanwälte profitieren von der schlauen System-Vorarbeit
Wer nun daran zweifelt, dass sich hier überhaupt Geld verdienen ließe, der irrt. Die Vertragsanwälte zahlen an Coduka – dem Betreiber von geblitzt.de – eine Lizenzgebühr für die Nutzung des Systems. So wird für die Routinearbeiten in Anwaltskanzleien keine Zeit mehr verschwendet, erklärt Ginhold. Seine Firma Coduka ist fungiert letztlich als Prozessfinanzierer und Softwareentwickler. Das permanent weiterentwickelte System erleichtere den Anwälten die Arbeit erheblich. Ginhold sieht hier eine Zeitersparnis von bis zu 90 Prozent. Daher dauert die Prüfung einer Akte für einen erfahrenen Anwalt nur noch selten mehr als 15 Minuten, weil alle erforderlichen Daten bereits aufgenommen und an ihn übermittelt wurden. Sogar die üblichen Fragen der Kunden wurden bereits über FAQs abgefangen. Wenn ein Fall dann doch komplizierter wird, kann der beauftragte Anwalt natürlich die weitere – ab dann kostenpflichtige – Beratung anbieten und ggf. über eine Rechtsschutzversicherung des Kunden/Mandanten abrechnen.
Wer nun denkt, dass durch einen Legaltech-Anbieter wie geblitzt.de die Anwaltschaft im Ganzen geschädigt würde, dem hält Jan Ginhold entgegen, dass 90 Prozent der Kunden ohne den kostenlosen Service von Coduka überhaupt nicht zu einem Anwalt gegangen wären und ihren „Knollen“ einfach bezahlt hätten. Dass sich das Portal recht schnell in die profitable Zone entwickelt hat, liegt neben der Automatisierung wohl auch am selbst erklärenden Namen. Nach Meinung von Ginhold war die Markenbildung hier von entscheidender Bedeutung. Es ging darum einen Namen zu finden, der dem Verständnis und der Internetsuche des Anwenders(!) – nicht des Anbieters – entspricht. Das hieß für ihn, dieser musste deutsch sein, denn Anglizismen von Marketiers werden oft vom Kunden gar nicht verstanden. Und geblitzt.de sagt doch eigentlich alles…
Beispiel www.Flightright.de
Ein ähnlich spezielles Marktsegment bedient www.flightright.de. Unzufrieden mit der Nicht-Reaktion von Airlines nach Flugverspätungen und -ausfällen entwickelten die Gründer von Flightright ebenfalls ein erfolgsbasiertes Portal zur Durchsetzung der europäischen Fluggastrechte. Ihr System basiert auf Entscheidungsbäumen und automatisierten Workflows. Und auch für Geschäftsführer Dr. Philipp Kadelbach macht es die Masse. Im System werten die Betreiber Zigtausende von Flugdaten aus und eliminieren dabei die nicht erfolgversprechenden Fälle. Da von jedem Ausfall oder jeder Verspätung naturgemäß immer alle Passagiere einer Maschine betroffen sind, ergibt sich automatisch ein Skaleneffekt, denn wurde ein Fall durchgefochten, so lassen sich die anderen in der Regel ohne weiteren Prozess durchsetzen. Die Erfolgsquote von Flightright liegt vor Gericht nach eigenen Aussagen bei 98 Prozent. Das ist ein Wort!
Und auch Dr. Kadelbach unterstreicht, dass er mit seinem Unternehmen den klassischen Kanzleien kein Geschäft weggenommen hat. Er hat ein neues Marktsegment erschlossen, denn Fluggastrechte wurden zuvor so gut wie nie durchgesetzt.
Fazit
Auf dem Deutschen Anwaltstag 2016 konnte der geneigte Zuhörer wiederholt herausfiltern, dass die Digitalisierung in den unterschiedlichsten Bereichen fortschreitet und sogar gänzlich neue Geschäftsfelder eröffnet. Es gibt eine Vielzahl von Themen, bei denen es um neue Geschäfte, einfachere Kommunikation und effizientere Arbeitsprozesse geht.
Fragen und Antworten zum 67. Deutschen Anwaltstag
kanzleiLIFE sprach mit dem Rechtsanwalt und Pressesprecher des Deutschen Anwaltvereins Swen Walentowski.
Herr Walentowski, wie sieht der DAV die Resonanz (intern und von außen) auf den DAT?
Wir sehen die Resonanz sehr positiv. Wir hatten eine Rekordbeteiligung. Besonders gut besucht waren nicht nur die zahlreichen FAO-relevanten Veranstaltungen, sondern gerade auch Veranstaltungen mit Querschnittsthemen. Es ist uns gelungen, die Themen der Anwaltschaft auch nach außen darzustellen. Gleichzeitig konnten wir die Medien, die Politik, die Justiz und die Wissenschaft hereinholen, um gemeinsam zu diskutieren.
Wie viele Teilnehmer waren dabei?
Wir hatten in diesem Jahr 1.950 Teilnehmer und über 60 Aussteller auf der begleitenden Fachmesse „AdvoTec“.
Wie stellt sich der DAV zur fortschreitenden Digitalisierung der Branche?
Die Digitalisierung ist unabwendbar. Und das ist gut so. Sie wird helfen Abläufe zu optimieren. Dadurch können auch in Zukunft auf die Interessen der Mandanten zugeschnittene anwaltliche Dienstleistungen angeboten werden. Der nächste Anwaltstag 2017 in Essen wird sich hiermit besonders auseinandersetzen.
In welche Richtung wird/muss sich die Kanzleiorganisation in Zeiten steigenden Wettbewerbs entwickeln?
Die Anwaltschaft hatte und hat ganz klar die Interessen der Mandantschaft im Blick. Danach hat sich auch die Kanzleiorganisation zu richten. Nur durch eine – auch digitalisierte – Kanzleiorganisation wird die Anwaltschaft in der Lage sein, auch zukünftig bezahlbare Leistungen für ihre Mandanten anbieten zu können.
Haben Sie ein Statement zum beA und dessen Einführung nach der Termin-Verschiebung?
Aus Sicht des DAV kommen die AGH-Entscheidungen vom 6. Juni 2016 nicht überraschend. Sie sind kein Grund, den 29. September 2016 als Starttermin zu kippen. Der DAV appelliert weiterhin an Gesetzgeber und BRAK, technische und normative Voraussetzungen für einen Start zum geplanten Termin zu schaffen. Jedenfalls sollte eine unverbindliche Testphase ab dem 29. September 2016 ermöglicht werden. Die Anwaltschaft will das beA.
Herr Walentowski, wir danken Ihnen für das Gespräch.
Veranstaltungsankündigung des DAV:
Der 68. Deutsche Anwaltstag (DAT) findet vom 24. bis 26. Mai 2017 in Essen statt. Motto: „Innovationen und Legal Tech“.
Fotos im Beitrag: Stephan H. Gursky
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