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Elektronischer Rechtsverkehr auch in Äthiopien ein Thema

Elektronischer Rechtsverkehr auch in Äthiopien ein Thema

ReNoStar unterstützt Äthiopische Justiz bei der Einführung des ERV

(shg) – Die ReNoStar GmbH übernimmt die Federführung im Projekt „Einführung des elektronischen Rechtsverkehrs in Äthiopien mittels Prototypen“. Es folgt den Regeln eines develoPPP.de Projektes, durchgeführt vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) über den Partner sequa.

Generell unterscheiden sich die Rechtssysteme der föderal strukturierten Länder Äthiopien und Deutschland viel weniger als möglicherweise vermutet. In beiden Ländern gibt es mehrzügige Rechtswege und unterschiedliche Zuständigkeiten der Gerichte. Woran es jedoch mangelt, ist die Effizienz der Abwicklung von Rechtsfällen vor Gericht. Moderne elektronische Kommunikation anstelle der Brief-Kommunikation ist das Ziel, um die Korrespondenz zwischen Gerichten und Beteiligten zu beschleunigen und zu vereinfachen. Da in Deutschland derzeit der so genannte Elektronische Rechtsverkehr aufgebaut wird, adaptiert ReNoStar an dieser Stelle seine Erfahrungen und technische Lösungen auch für die Partner in Äthiopien.

 Das Projekt, die schnelle, sichere Kommunikation zwischen Gerichten, Klägern und Beklagten sowie Anwälten zu fördern, geht in die Prototypen-Phase. Nach einem Arbeitsbesuch einer Delegation von ReNoStar in Äthiopien (Januar 2018) und der Bestimmung von Eckpunkten und Meilensteinen folgte im April 2018 der Gegenbesuch.

Anlässlich dieser Projektbesprechungen hatten wir die Gelegenheit, mit Dr. Menberetsehai, dem früheren Vizepräsident des Federal Supreme Court in Äthiopien – vergleichbar dem Bundesgerichtshof – und derzeitigem juristischen Berater der äthiopischen Bundesregierung zu sprechen.

kanzleiLIFE: Was ist die Grundlage des äthiopischen Rechtssystems?

Dr. Menberetsehai: Äthiopien folgt der zivilrechtlichen Tradition. Sein Verfahrenssystem ist kontradiktorisch – es treffen also die gegnerischen Parteien eines Verfahrens gleichzeitig vor Gericht auf und äußern ihre Begehren und Argumente. Einige nennen es dennoch Hybridsystem, weil das Rechtssystem auch noch einige traditionelle Aspekte unseres Landes berücksichtigt.

Mit welchem Rechtssystem in anderen Ländern ist das äthiopische Rechtssystem vergleichbar?

Das materielle Recht sowie die Verfahren ähneln in vielerlei Hinsicht den zivilrechtlichen Systemen in Europa. Das äthiopische Zivilgesetzbuch wurde von dem französischen Juristen und Rechtswissenschaftler für vergleichendes Recht, Prof. Rene David, entworfen. Das Handelsgesetzbuch entstand in ähnlicher Weise von einem anderen Juristen aus Europa. Die Verfahrensregeln sind eine Mischung aus bisherigen und kontinentalen Vorgehensweisen. Sie haben also einige Werte aus dem britischen System und einige andere aus dem Zivilrechtssystem ausgewählt. Das Verfahrensdesign ist kontradiktorisch – die sich wiedersprechenden Parteien stehen sich also gegenüber und nicht der Richter fordert Beweise, sondern es liegt im Interesse der Betroffenen, sie vorzulegen. Die grundlegenden Sequenzen sind ähnlich dem deutschen System.

Haben alle Bürger Äthiopiens leichten Zugang zum Rechtssystem?

Leider noch nicht. Es gibt viele Hindernisse, wie Kosten, Entfernung, Komplexität des Verfahrens, fehlender Rechtsbeistand und ein bedrückendes Umfeld für verletzliche Gruppen wie Frauen und Kinder.

In welchen Bereichen sehen Sie die Hauptprobleme mit der Rechtsprechung?

Obwohl es einige Verbesserungen nach den jüngsten Reformprogrammen gibt, sehe ich nach wie vor einige Probleme in Bezug auf Effizienz, Modernität, Transparenz, Effektivität, Gerichtseinrichtungen, Fähigkeiten im Verfahrensmanagement, fehlende technologische Innovationen und Unerfahrenheit der Richter.

Die Regierung will eine Justiz mit mehr Transparenz und Effektivität. Was muss getan werden, um dies zu erreichen?

Einführung von weiteren technologischen Innovationen, Ausbildung, Schaffung eines würdigen Umfelds durch die Bereitstellung von standardisierten Einrichtungen – einschließlich Gebäuden – Institutionalisierung von Reformen sowie die Einführung innovativer Verfahrensvorrichtungen, die mehr Transparenz gewährleisten.

Daneben gilt es die Regeln für mehr Transparenz einzuhalten und die Bürger zu befähigen, ihre Stimme zu erheben. Ich glaube, dass der Technologie hier eine Schlüsselrolle zukommt. Der Verlust von Akten, die ordnungsgemäße Aufzeichnung von Zeugenaussagen, die online Verfügbarkeit von Urteilen, die Möglichkeit, Fälle online einzureichen sowie Daten über die Effizienz der Gerichte sind einige der Instrumente, die in der Lage sind, mehr Transparenz in Äthiopien zu schaffen.

Sie arbeiten an einem developPP-Projekt mit, das vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, der Sequa sowie dem Unternehmen ReNoStar getragen wird. Was erwarten Sie von ReNoStar?

Die Erwartungen sind hoch. Das Endergebnis sollten „zufriedene Nutzer der Justiz“ sein. Sie sind meiner Meinung nach der Indikator für Verbesserungen. Ein Zwischenergebnis, das uns diesem Ziel näher bringen würden, wäre die Entwicklung von Software, die auf die äthiopischen Bedürfnisse zugeschnitten ist, einschließlich Webportal, papierlosen Gerichtsprozessen, Spracherkennung etc. Für mich wandeln diese Veränderungen das gesamte „Spiel“. Die Neuerungen werden nicht nur viele Engpässe beseitigen, die bisher zu Verzögerungen, Unzufriedenheit und Frustration bei den Nutzern führen, sondern auch das Bild der Justiz im Allgemeinen verändern. Natürlich wird auch für Richter und Justizmitarbeiter das Leben deutlich einfacher. Sie werden bei geringerer Arbeitsbelastung gleichzeitig produktiver. Ich erwarte auch ein gut durchdachtes Trainingspaket. Die besten Lösungen helfen wenig, wenn sie nicht umgesetzt, konsequent weiterentwickelt und auf neue Bedürfnisse ausgerichtet werden.

Was sollte der erste Schritt sein?

Wir brauchen einen Plan, der sowohl für ReNoStar als auch für die äthiopischen Partner als Roadmap dient. Als erstes gilt es, die Herausforderungen zu kennen, die Äthiopien umsetzen will. Das haben wir meines Erachtens bereits erarbeitet. Der nächste Schritt wäre die Entwicklung von Lösungen unter Einbeziehung von Experten von ReNoStar und MIT in Mekele. Das Projekt sollte durch den Tigrai Supreme Court gesteuert werden. Eine weitere Priorität kommt dem Training zu, um allen Team-Mitgliedern die Bedeutung des Projekts und der Innovationen zu vermitteln.

Wie ist die Zusammenarbeit zwischen ReNoStar und den äthiopischen Behörden – Universitäten, Gerichten, Anwälten – geplant? 

Ein Projekt dieser Größenordnung erfordert Zusammenarbeit auf höchstem Niveau. ReNoStar hat das Know-how und die Erfahrung. Äthiopien hat das Bedürfnis und die Bereitschaft, sich den wichtigen Themen in der Justiz zu widmen. Der Oberste Gerichtshof von Tigrai muss alle notwendigen Informationen bereitstellen, um die Umsetzung und das Änderungsmanagement zu erleichtern. Das Mekele University-MIT wird die Drehscheibe sein, wo die Lösungen von ReNoStar angepasst und weiterentwickelt werden, um sie auf andere Gerichte auszuweiten.

Von den Behörden wird erwartet, dass sie das Projekt auf verschiedene Weise fördern, vor allem durch politische Unterstützung. Weitere Behörden wie Staatsanwaltschaft und Polizei werden sukzessive Teil des Umsetzungsteams sein, da sie ebenfalls Nutznießer des Projekts sind.

Rechtsanwälte sind die Hauptakteure im Gerichtsverfahren. Sie müssen die Bedeutung des Systems verstehen und die Entwicklung sowie deren Umsetzung so weit wie möglich unterstützen. Am Anfang rechnen wir jedoch auch mit einem gewissen Widerstand.

Wie wollen Sie den verschiedenen Landessprachen gerecht werden? Ist Amharisch und Englisch genug?

Äthiopien ist multinational. Wir haben daher unterschiedliche Sprachen auch in den Gerichten. Sobald das System in Mekele getestet wurde und sich bewährt hat, wird es notwendig, das System für andere Sprachen und Regionen des Landes zu adaptieren, so beispielsweise in Amhara (Amharisch), Oromo (Oromipha), dem Süden (viele lokale Sprachen und Amharisch) und vielen anderen Regionen.

Ich gehe davon aus, dass die Regierung – sobald sie sieht, dass dieses Projekt eine Schlüsselrolle bei der Lösung der Hauptprobleme des Justizsystems spielt – das Vorgehen kurzfristig auf andere Landesteile ausweiten möchte. Der Ausbau auf Basis von sog. Best Practices ist eines der Merkmale der äthiopischen Regierung.

Wie wichtig sind Anwälte in Äthiopien?

Soweit sie die Prozessparteien vertreten, sind Anwälte sehr wichtig und werden deshalb in vielen Rechtsordnungen als Diener der Gerichte (dt. Organe der Rechtspflege) angesehen. Allerdings muss man konstatieren, dass ihre Zahl in Äthiopien insgesamt gering ist, obwohl sie wächst. Viele Anwälte sind jedoch in den städtischen Zentren konzentriert. Auf der anderen Seite können es sich viele Prozessparteien nicht leisten, einen Anwalt zu beauftragen. Die Vertretung durch einen Rechtsanwalt ist in Äthiopien nicht obligatorisch. Anwälte sind jedoch gesetzlich verpflichtet, für 50 Stunden im Jahr kostenlose Dienstleistungen zu erbringen. Es gibt auch eine Regelung für Prozesskostenhilfe, aber das Budget ist begrenzt.

Wie kann die Bedeutung der Anwaltschaft erhöht werden?

Die Regierung arbeitet aktuell an einigen Reformpaketen, um die Probleme in Bezug auf Fachkompetenz, ethische Fragen, Ausbildung und Einsatz moderner Systeme in ihren Arbeitsprozessen anzugehen. Das ReNoStar-System kann dabei helfen.

Wo sehen Sie das äthiopische Rechtssystem in zehn Jahren?

Äthiopien hat den ehrgeizigen Plan, bis 2025 ein Land mit mittlerem Einkommen zu werden. Das erfordert ein lebendigeres Rechtssystem. Die wirtschaftliche Entwicklung wird neue Anforderungen an das Rechtssystem stellen und sie werden sich gegenseitig beeinflussen. In zehn Jahren wünsche ich mir ein Gerichtsumfeld, das technisch versiert, freundlicher, effizienter, transparenter, rechenschaftspflichtiger und als Ergebnis davon in der Lage ist, schneller auf wechselnde Anforderungen zu reagieren. In einem schnellen Prozess der Globalisierung kann und darf das äthiopische Rechtssystem sich nicht isolieren und zurückziehen von den praktischen Anforderungen und Nöten der Gesellschaft.

Was würden Sie sich von der EU wünschen, um die Entwicklung in Äthiopien im Allgemeinen zu fördern?

  • Die Bedürfnisse Äthiopiens verstehen
  • Äthiopiens Prioritäten verstehen
  • Erfahrungen (technisch und menschlich) teilen
  • Finanzielle Unterstützung bereitstellen
  • Darauf vertrauen, dass Äthiopiens die Armut besiegen kann
  • Gewährung von möglichst viel Unterstützung bei Aus- und Weiterbildung, damit Äthiopien bald auf eigenen Füßen steht
  • Erleichterung des Wissenstransfers

Sehr geehrter Herr Dr. Menberetsehai, wir danken Ihnen für dieses Gespräch und wünschen Ihnen und dem Projekt gutes Gelingen.

Projektinformationen auch unter www.aethiopien.renostar.de.

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